Transzendieren

 

Die Meister der Waldklostertradition, wie Ajahn Man und Ajahn Mahaboa, zeigen durch ihre Erfahrungen und Unterweisungen das auf, was der Buddha als höchste Befreiung, Nibbana/Nirvana erkannt und verwirklicht hat. Wie Ajahn Mahaboa lehrt: "Der reine, klare Geistgrund, dieses Gewahrsein, ist dein eigentliches, wahres Selbst. Aber es ist noch nicht Anatta, Nicht-Selbst, Befreiung, Nibbana." Wir müssen auch darüber noch hinausgehen, das subtilste Zentrum, ein verstecktes Selbst, von dem dieses klare, strahlende Gewahrsein ausgeht, erkennen und loslassen. Es ist die Quelle von Avijja und Maya, der Unwissenheit und Täuschung bzw. Illusion und des ganzen Samsara, wie er lehrt. (Siehe dazu unter "Essenz des Dharma")

Nicht umsonst führe ich diese Meister der Waldklostertradition als letzte an, denn nichts kann über diese Erkenntnis hinausgehen, die eben auch die Erfahrung der Natur des Geistes noch transzendiert. Und somit schließt sich der Kreis, ausgehend von den Lehren des Buddha und wieder hingehend zu seiner höchsten Verwirklichung.

Mit diesem Verständnis lösen sich auch die Widersprüche auf, die sich unweigerlich ergeben, wenn die späteren Traditionen mit der ursprünglichen Lehre des Buddha verglichen werden. Das Mahayana einschließlich dem Vajrayana ist eine Entwicklung innerhalb des Buddhismus, mit wertvollen zusätzlichen Trainings-Methoden für den Geist und für die Transformation, durch die der Praktizierende aber in erster Linie in die Welt gerichtet bleibt. Das ist der Sinn und Zweck des Mahayana, des sogenannten "großen Fahrzeugs". Dies wird auch durch das Bodhisattva-Gelöbnis unterstrichen, das in diesen Traditionen eine Verpflichtung darstellt, um für das Wohl der Wesen in der Welt zu bleiben und auf die letztendliche Befreiung zu verzichten. Wenn wir aber die absolute Wahrheit erkennen, wie sie der Buddha gelehrt hat, eröffnet sich der "überweltliche Pfad", der direkt auf die höchste, transzendente Wirklichkeit und letztendliche Befreiung ausgerichtet ist - die Überwindung jeglicher Existenz - dem einzigen Mittel, um den Leidenskreislauf zu durchbrechen.

Aus meiner persönlichen Erfahrung relativieren sich die Widersprüche in dem Moment, wenn wir die Tiefe des Buddhadharma wirklich verstanden haben und jegliche Suche nach irgendetwas aufgeben, wenn wir aufhören, Weltverbesserer werden zu wollen und in die Daseinsmerkmale der Existenz tiefe Einsicht gewinnen: Anicca, Dukkha, Anatta - Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit und Nicht-Selbst. Dann erkennen wir, welche Aussagen und Methoden der relativen weltlichen Ebene zuzuordnen sind und welche der letztendlichen absoluten Wirklichkeit und Wahrheit. Wir erkennen die relativen Methoden als Hilfsmittel in einer bestimmten Phase unserer spirituellen Entwicklung. Durch tiefe Einsicht und unsere Praxiserfahrung können wir sie dann eines Tages transzendieren und loslassen um den Weg weiterzugehen, bevor diese Methoden zu einem Hindernis auf unserem spirituellen Weg werden. Letztendlich, aus der neu erlangten Sicht heraus, erfüllen sie sich von selbst und werden damit überflüssig. Hier möchte ich auf das Gleichnis vom Floß hinweisen, das der Buddha gegeben hat: Ein Floß ist solange nützlich, bis wir das Ufer erreicht haben. Dann aber werden wir es nicht mit uns herumschleppen, sondern liegen lassen. 

Und wie mir persönlich bei einem Retreat der weltweit hochgeschätzte leitende Chan-Meister versichert hat: Das Bodhisattva-Gelöbnis bezieht sich nur auf diese relative Welt. Sobald wir diese Ebene transzendieren, werden Raum und Zeit und damit jede Vorstellung von Lebewesen und einer Welt der Illusion in der absoluten Wirklichkeit überschritten (Prajnaparamita-Sutras). Wenn also die Tiefe der Wahrheit erfahren und verwirklicht wird, ist auch das Gelöbnis erfüllt. Ja, es erübrigt sich dann jedes Gelöbnis. Der Chan-Meister sagte auch, dass die Auslegung, für unendliche Zeiten in der Welt zu bleiben und auf die letztendliche Befreiung zu verzichten, um alle Wesen zu retten, nur eine von möglichen Interpretationen ist. Wer sich wörtlich daran klammert, ist noch dieser Welt verhaftet und hat nicht genug Weisheit entwickelt, um eben diese absolute Wahrheit (Prajnaparamita) zu verstehen. - Ich denke, es geht hier um die Weisheit, die zur Loslösung durch Einsicht führt. Dazu gehört auch das Loslassen vom Klammern an Worten, um den eigentlichen tiefen Sinn zu erfassen, der hinter den Worten steht. Und es geht um Loslassen und Transzendieren der institutionalisierten Traditionen und deren Meinungen und Ansichten, wozu wir im Westen die Freiheit haben - im Gegensatz zu den meisten asiatischen Meistern, die für ihre Tradition in der Pflicht stehen.

Diese Aussage des Chan-Meisters hat mir sehr geholfen, wie auch die Darlegung des Altmeisters Hui-Neng, dem Verfasser des berühmten Plattform-Sutras: "Alle Lebewesen sind in unserem eigenen Geist. Wenn wir uns selbst, das heißt unseren eigenen Geist befreien, befreien wir damit alle Lebewesen." Auch das weist wieder auf die vollendete Weisheit Prajnaparamita hin. 

Trotz dieser tiefgründigen Betrachtungen und Einsichten dürfen wir aber nicht den Wert des "weltlichen Pfades" und der Gelöbnisse und Richtlinien unterschätzen. Sie sind notwendige Hilfsmittel, denn wir sind nun mal in einer relativen Welt, leben dort mit anderen zusammen und sind voneinander abhängig. Mit anderen Worten, wir dürfen die relative und die absolute Wirklichkeit weder verwechseln noch vermischen, sonst erzeugen wir Unheil nach außen und ein großes Durcheinander in uns selbst. Wir sollten lernen, beide Standpunkte einzunehmen, d.h. die relative Existenz heilsam für uns und andere leben und gleichzeitig in der absoluten Wahrheit verankert sein. Dann sind wir in Balance, im Gleichmut und frei von Dukkha.

Diese Darlegungen mögen auch anderen helfen, die wie ich auf ihrem Weg irgendwann an Grenzen stoßen, die überwunden werden müssen um weiterzugehen. Das Mahayana einschließlich dem Vajrayana ist ein wertvolles Training und eine Transformation unserer Persönlichkeit, die jedem zu empfehlen ist, der sich für diese Methoden öffnen kann. Aber als eigentlichen Schwerpunkt auf dem Weg sollten es nur diejenigen betrachten, die in einer Welt innerhalb des Existenzkreislaufs bzw. in einem höheren oder auch reinen Bereich bleiben wollen, das heißt innerhalb der Existenzen wiedererscheinen möchten. Auch der Buddha hat für solche Menschen viele Unterweisungen gegeben. Wer aber aus seinem tiefsten Inneren heraus einen spirituellen Befreiungs-Weg betreten hat, wird irgendwann und letztendlich dem "überweltlichen Pfad" des Buddha folgen, der zu Bodhi, Erwachen aus dem Traum von Samsara, und damit zur Befreiung von jeglicher Existenz einschließlich der reinen Erscheinungen führt.

Eine Aktivität zum Wohl von anderen schließt dieser Weg immer ein. Es ist ganz im Sinne der Bodhisattva-Haltung ein inneres Bedürfnis Lebewesen zu helfen und anderen Menschen den Weg aus dem Leiden zu zeigen, solange wir in der Welt sind. Dies ist eine Herzensangelegenheit jedes tief Praktizierenden, die der natürlichen Öffnung und Entfaltung von Metta-Karuna (mitfühlender Liebender Güte) bzw. der Brahmavihara, der "göttlichen Gesinnungen" entspringt, zu denen auch die Freude auf dem Weg und der erwähnte Gleichmut als Balance gehören. 

 

"Ihr solltet frei denken, genau untersuchen, kritisch abwägen. 

Versteht und glaubt nur das, was wirklich nutzbringend ist. 

Lasst euch nicht in einer dieser angesehenen oder berühmten Institutionen gefangen nehmen."

Ajahn Buddhadasa

 

 

relativ und absolut

 

Ani Karma Tsultrim